Aus dem Rahmen

Wir leben in einer Zeit der Auflösung vieler Gewissheiten, die unser Denken und Handeln bisher bestimmt haben. Mentale und technologische Veränderungen unseres Zusammenlebens sind seit längerem im Gang und haben die Rahmenbedingungen für unsere Existenz erkennbar verschoben. Dazu gehören Phänomene wie die Globalisierung und die Digitalisierung, aber auch die Frage nach der Abgrenzbarkeit individueller Identität.

In den letzten Jahren hat jedoch auch eine Reihe spektakulärer Ereignisse so manche Selbstverständlichkeiten unseres Daseins ins Wanken gebracht: Wir haben durch die Covid-19-Pandemie erleben müssen, wie rasch alle Voraussetzungen unseres Zusammenlebens in Gefahr geraten können. Der Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine hat die Konzepte von Solidarität, Toleranz und der Sicherung friedlichen Zusammenlebens auf die Probe gestellt.

Diese komplexen Voraussetzungen für unser Leben und Handeln motivieren uns dazu, nicht nur auf weltpolitischer Ebene, sondern auch im Bereich des persönlichen Alltags darüber nachzudenken, wie damit umzugehen ist, wenn einzelne Personen und Lebensmuster „aus dem Rahmen“ fallen. Wie lässt sich das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Normen und individueller Abweichung aushandeln? Wie ist die Herausforderung zu bewältigen, wenn physisches oder psychisches Anders-Sein die Einpassung in den sozialen „Rahmen“ erschwert? Wie können wir im Kontext der aktuellen Migrationsbewegungen die friedliche Verschmelzung unterschiedlicher kultureller Wertevorstellungen organisieren?

Die bei den Rauriser Literaturtagen 2023 präsentierten Texte verhandeln Fragen von Zugehörigkeit und Ausgrenzung, von Anpassung und Abweichung – nicht selten (und passend zur Tradition des Festivals) über die kritische Untersuchung regionaler, nicht-urbaner Lebensräume. Und sie machen sich mit den unterschiedlichsten literarischen Mitteln auf die Suche nach neuen „Rahmen“-Modellen, in denen auch Platz hat, was nach dem überkommenen Verständnis als „fremd“ empfunden wird.

 Ines Schütz und Manfred Mittermayer